Als ich 2004 von meinem ersten Besuch in China – einer fünfwöchigen Reise – nach Wien zurückkehrte, hatte ich in den ersten Tagen, wie so viele Reisende nach ihrer Rückkehr, mit einem Gefühl des Fremdseins in der eigenen Heimat zu kämpfen.

Einzig die vielen chinesischen Geschäfte in meinem Bezirk stellten die Vertrautheit der vergangenen Wochen wieder her.

Die Gegend rund um den Wiener Naschmarkt und speziell die Kettenbrückengasse sind Zentren der Wiener chinesischen Community.

Graffiti in der Kettenbrückengasse

Graffiti in der Kettenbrückengasse

Man findet hier nicht nur das einzige chinesische Buchgeschäft Europas, sondern auch mehrere kleine Lebensmittelläden, einen Friseur, zwei Restaurants, einen chinesischen Handyladen, die Redaktion einer chinesischen Wochenzeitung, den Verein der Provinz Zheijang und ein chinesisches Reisebüro.

In China werden Menschen, die das Land verlassen, um in der Fremde ein neues Leben aufzubauen, auch Brückenmenschen genannt.

Ich habe begonnen mich, für deren Geschichten zu interessieren, wollte wissen wie die Menschen hier gelandet sind. In meinen Rechercheinterviews wurde mir immer wieder ähnliches geschildert.

Zumeist gab es schon Verwandtschaft hier und fast immer führte der erste Weg in die Küche eines Chinarestaurants. Dann wurde viel gearbeitet, viel gespart, mit dem Ziel die Schlepperschulden zu begleichen und ein eigenes Restaurant aufzumachen.

Mittlerweile hat sich vieles verändert. Die Gastronomie klagt über Personalmangel – eine Folge der strengen Einwanderungsbestimmungen, aber auch des chinesischen Wirtschaftsaufschwungs. Viele ChinesInnen leben und arbeiten inzwischen sowohl in Wien als auch in China.

Für mich steht Wien in China Reverse stellvertretend für viele europäische Städte und somit erzähle ich mit dem Film gewissermaßen auch die Geschichte der chinesischen Migration nach Europa.
Laut den Zahlen von Statistik Austria aus dem Jahr 2008 leben in Wien 8.633 Personen,
deren Geburtsland China ist. Schätzungen von Organisationen, die mit Flüchtlingen arbeiten, sprechen jedoch von 20.000 – 30.000 ChinesInnen in Wien.
Der Großteil davon kommt aus der Region Zheijang, und hier aus den beiden Städten Qingtian und Wenzhou.

Qingtian ist ein Kreis und eine Stadt mit ca. 480.000 Einwohnern in der südchinesischen Provinz Zheijang. Die Stadt liegt in einem schmalen Tal in einer gebirgigen Region.

Ein breiter Fluss trennt Qingtian in einen alten, kontinuierlich gewachsenen und in einen neuen, erst im Boom entstanden Teil. Seit China ab den 80ern seine Ausreisebestimmungen lockerte, sind ca. 230.000 Menschen aus der Gegend ausgewandert, hauptsächlich nach Europa.

Sobald man Individuen aus einem Land kennenlernt, verändern sich oft die pauschalen Gedanken, die man über die Menschen und das Land vorher hatte.

Die AustrochinesInnen sind sich der Vorurteile und Mythen, die rund um sie kursieren, sehr bewusst. Deshalb steht man ÖsterreicherInnen vorerst sehr skeptisch gegenüber.

Durch meine längeren Aufenthalte in China, konnte ich schließlich das Vertrauen der Community in Wien gewinnen.

Das Leben von Menschen, die ihre Heimat und Familien verlassen und ins Ungewisse
aufbrechen, hat mich schon immer fasziniert.

Sie alle nehmen ein Stück Heimat an ihren neuen Lebensort mit und bauen sich dort eine kleine Welt auf, die an zu Hause erinnert.

Heimat ist längst ein geographisch unabhängiger Begriff geworden.

Judith Benedikt 2015


'Ich habe ihr einen guten Namen gegeben, „Fliegen“, damit sie hinausfliegt, und die Welt entdeckt.'

~ Vater von Xie Feiru über Xie